Hunderte von Kilometern hat dieses Rad – eines von Vieren des Planwagens der Familie Dittmann – bis Oberfranken zurückgelegt. Zuvor hatte der Wagen den Dittmanns in Groß Obisch im Kreis Glogau viele Jahre auf ihrem landwirtschaftlichen Hof treue Dienste geleistet. Dass er einmal eine solch lange Strecke würde zurücklegen müssen, daran hatte bis Ende Januar 1945 keiner gedacht. Denn selbst als die Rote Armee nach dem Zusammenbruch der Ostfront binnen weniger Tage nach Schlesien vorgedrungen war, rechneten die Menschen in den links der Oder gelegenen Dörfern nicht damit, dass der Feind die Landstriche jenseits der unüberwindlich scheinenden Oder erreichen würde. In Steinau hatten die Russen jedoch bereits am 24. Januar die Oder überquert. So lag es an der Weitsicht der jeweilig in den Ortschaften Verantwortlichen, ob der Evakuierungsbefehl früh genug erteilt wurde und die Menschen sich noch in Sicherheit bringen konnten oder nicht.
Die Bewohner von Groß Obisch begaben sich am 27. Januar 1945 auf die Flucht und verließen den Ort somit noch rechtzeitig, bevor die Russen am 8. Februar 1945 den ganzen Kreis erobert und die zur Festung erklärte Stadt Glogau eingeschlossen hatten. Unter ihnen war auch Lisbeth Dittmann mit dem zweispännigen Wagen und ihren beiden Pferden. Nach dem Tod ihres Vaters Gustav Dittmann im September 1939 hatte Lisbeth als jüngste Tochter den mehr als 10 Hektar Land umfassenden Hof mit Gastwirtschaft übernommen. Laut Eintrag in der Hofkarte, gehörten 1941 neben den beiden Pferden auch elf Rinder und elf Schweine zum Betrieb. Die zwei, 1937 noch eingetragenen motorisierten Fahrzeuge, wurden 1941 jedoch schon nicht mehr aufgeführt.
Außer Lisbeth Dittmann und ihrer Mutter hatte sich auch die Familie ihrer Schwester Erna Hampel mit ihrem Pferdewagen dem Treck angeschlossen. Ernas Mann Herbert hatte nach der Hochzeit einen Hof in der Nachbarschaft von Ernas Elternhaus erworben. Von der engen Zusammenarbeit beider Betriebe zeugt das Bild aus der Vorkriegszeit.
Am 14. März 1945 erreichten die Familien Dittmann und Hampel Oberfranken und fanden in Neuengrün im Kreis Kronach Unterkunft. Nach dem vergeblichen Versuch, in die Heimat zurückzukehren, sicherten Pferde und Wagen Lisbeth Dittmann zunächst ihre Existenz. Bis sie das eine der beiden Pferde verlor, verdiente sie Geld mit der Übernahme von Gespanndiensten. Ihr Schwager Herbert fand seine Familie im August 1945 wieder und erwarb kurze Zeit später in Reutlashof im Kreis Kulmbach einen neuen Hof.
Seit 1990 steht der Wagen im Garten von HAUS SCHLESIEN und erinnert dort an das Schicksal der Millionen Schlesier, die sich im Winter 1945 auf die Flucht begeben mussten. Um dieses Zeugnis des Leids der Flüchtlinge auch für die nächsten Generationen zu bewahren, wurde der Wagen im letzten Jahr fachmännisch restauriert.