Im Januar 1945 verfolgten auch die Bewohner von Leubus angespannt die Entwicklungen an der Ostfront. Werner Ansahl notierte, als er seine Fluchterlebnisse 1947 niederschrieb, über diese Zeit: “Was gestern galt war heute überholt – und vielleicht schon einige Stunden später erneut über den Haufen geworfen.“
Die 16-jährige Barbara beobachtete bang die seit Tagen durch den Ort ziehenden Flüchtlingsströme – die sorglosen Tage mit Feldarbeit und Kinderfesten waren vorbei. Mit ihrer Mutter und den Geschwistern wohnte sie in der Bergstraße im Städel Leubus – der Vater, Alfred Stusche, war als Soldat an der Ostfront im Einsatz, wo er in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten war. Ein Bild aus dem Jahr 1942 zeigt ihn auf Heimaturlaub im Kreis seiner Familie.
Als am 20. Januar 1945 die baldige Räumung der Stadt bekanntgegeben wurde, überlegte auch Barbaras Familie, was mitgenommen werden muss – Papiere und Sparbücher, Bettzeug, warme Kleidung. Die Evakuierung kam jedoch schneller als erwartet und die Farbe, mit der Barbara die Namen auf die Koffer gepinselt hatte, war noch nicht getrocknet, als der Pfarrer am Folgetag, einem Sonntag, von der Kanzel verkündet, dass Leubus in drei Stunden geräumt sein müsse. Ihr Hab und Gut lud Familie Stusche auf den Wagen einer Bauernfamilie. Die kleinen Geschwister konnten auf dem Anstaltswagen mitfahren, Barbara und ihre Schwester packten ihre Rucksäcke auf die Räder und am Mittag begaben sich die Leubuser mit Pferdewagen, Fahrrädern, Handkarren oder zu Fuß auf ihren langen Marsch ins Ungewisse. Nicht alle schlossen sich dem Treck an – auch Barbaras Großeltern blieben in Leubus zurück.
Nach vier Tagen bei eisiger Kälte, Schnee und Eis erreichte der Treck Harpersdorf im Kreis Goldberg. Barbara kam mir ihrer Familie bei einem Bäcker unter und kann sich noch nach Jahrzehnten an den wohligen Duft erinnern und an „das Wunder“, dass es täglich frisches Brot gab. Doch nach 14 Tagen rückte auch hier die Front gefährlich nahe und die Flüchtlinge aus Leubus mussten weiterziehen. Über Schmottseifen, Liebenthal und Bad Flinsberg ging es nach Friedland (Sudetenland), von wo es für die Alten, Kranken und Mütter mit Kleinkindern im Zug weiterging – auch ein Teil von Barbaras Familie war darunter. Spätestens nach 14 Tagen, so dachte man, sollte die Familie wieder zusammentreffen.
Da es zunehmend schwierig wurde, stets für mehr als 900 Personen eine Bleibe zu finden, wurde der Treck in Friedland aufgeteilt. Barbaras Familie zog unter der Führung des Bürgermeisters über Zittau, Warnsdorf und Tetschen-Bodenbach bis nach Aussig, wo der Treck nach dreiwöchigem Unterwegssein zunächst liegen blieb. Um den im Zug vorgereisten Teil der Familie wiederzutreffen, organisierte Barbaras Tante schließlich Plätze in einem Zug nach Eger. Weiter ging es von dort mit dem Zug über Marktredwitz und Regensburg bis ins Altmühltal, wo sich schon der Rest der Familie befand – auch der Vater wurde aus der Kriegsgefangenschaft nach Bayern entlassen und stieß an der Altmühl wieder zur Familie.