STUDENTENSEMINARE
Unter dem Titel „Schlesische Begegnungen“ finden jedes Jahr ca. 10 Seminare in Zusammenarbeit mit polnischen Hochschulen im HAUS SCHLESIEN statt. Hierzu kommen mit finanzieller Unterstützung des Bundesministeriums des Innern und für Heimat polnische Germanistik- und Geschichtsstudenten zu jeweils einwöchigen Seminaren nach Königswinter. Zu dem umfassenden Programm gehören u.a. Zeitzeugengespräche, Exkursionen und die intensive Bearbeitung von Themen im Spektrum Deutschland – Polen. Die Seminare werden von den Universitäten offiziell für den Studiengang anerkannt.
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Academia Silesia 2023
TRILATERALES SEMINAR IM HAUS SCHLESIEN
Vom 19. bis 25. November fand bereits die dritte Academia Silesia statt. Zugleich war dieses Seminar eine Premiere im HAUS SCHLESIEN: Doktoranden und Studierende aus Deutschland, Polen und Tschechien nahmen an dem einwöchigen verständigungspolitischen Seminar teil, das hier also erstmals junge Leute aus gleich drei Ländern zusammenbrachte.
Der erste Tag des Besuchs begann mit einem Einblick in Forschung und Lehre zu Schlesien an den drei beteiligten Universitäten: Prof. Marek Hałub (Wrocław), Dr. Christoph Studt (Bonn) und Dr. Gabriela Rykalová (Opava) präsentierten die Schlesienforschung an ihren Instituten. In Dr. Hana Komárkovás (Opava) Vortrag ging es dann um einen besonderen Gedächtnisort: Bei der Renovierung eines Cafés in Würbenthal (Vrbno pod Pradědem) wurden rund 170 versteckte Bücher und Zeitschriften sowie persönliche Dokumente aus der deutschen Zeit der Stadt vor 1945 gefunden und werden seit 2021 erforscht. Nicola Remig, Leiterin des Dokumentations- und Informationszentrums im HAUS SCHLESIEN, stellte die verschiedenen Arbeitsbereiche und Bildungsangebote der Einrichtung vor. Anschließend hatten die Seminarteilnehmer die Gelegenheit, das Museum mit seiner neuen Dauerausstellung und die Bibliothek zu besichtigen.
Am zweiten Tag der Reise besuchten die Studierenden zunächst das Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens in der Stadt Eupen. Während der Führung und im Sitzungssaal des Regionalparlaments lernten sie Ostbelgien mit seiner wechselvollen Geschichte und Kultur kennen. Beeindruckend waren für die Gäste aus Polen und Tschechien vor allem die Möglichkeiten und Erfolge der Selbstverwaltung der deutschen Belgier in der Grenzregion. Die Gruppe interessierte sich besonders für die Mehrsprachigkeit der Einwohner und die einzigartige Autonomie der Region.
Als nächstes stand Aachen auf dem Programm, wo die Studierenden von der katholischen deutschen Studentenverbindung KDStV Marchia (Breslau) herzlich empfangen wurden. Die Verbindung war 1910 ursprünglich an der Technischen Universität Breslau gegründet und nach dem Zweiten Weltkrieg in Aachen reaktiviert worden. Ab 1934 strebten die Nationalsozialisten zunächst die Gleichschaltung der Studentenverbindungen an, viele Verbindungen kamen dem jedoch durch eine vorherige Selbstauflösung zuvor. 1938 wurden sie dann von den Nationalsozialisten ganz verboten. Nach der Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten und der Teilung Deutschlands formierten sich viele ost- und mitteldeutsche Verbindungen im Westen neu. In den letzten Jahren haben Studenten der KDStV Marchia regelmäßig Breslau besucht, darunter auch das Institut für Germanische Philologie an der Universität. Auf dem Verbindungshaus fand auch ein Vortrag von Adam Wojtala (HAUS SCHLESIEN) statt, der sein Dissertationsprojekt über die Erinnerungskultur der Breslauer katholischen Studentenverbindungen vorstellte.
Gleich am Morgen des dritten Tages fuhren die Studierenden nach Bonn, um das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zu besuchen. Danach ging es in die Innenstadt von Bonn, das viele Jahre die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland war. Anschließend machte sich die Gruppe auf den Weg zum Petersberg. Das Hotel oben auf dem Berg war seit den Nachkriegsjahrzehnten bis in die Gegenwart immer wieder Schauplatz diplomatischer Treffen, politischer Verhandlungen und wichtiger internationaler Konferenzen, worüber das noch recht neue Dokumentationszentrum im früheren Wachhaus erzählt. Der Ort ist nicht nur aus historischen Gründen bemerkenswert – er bietet auch ein wunderschönes Panorama über das Rheintal.
Der vierte Tag des trilateralen Seminars stand im Zeichen der jüdischen Kultur, deren Spuren fest in der schlesischen Geschichte verwurzelt sind. Er begann mit der Vorführung des Films „Wir sind Juden aus Breslau“, in dem Zeitzeugen an vergangene Zeiten und die Schreckensherrschaft der Nazis erinnern. Nach dem Film ging es zu einer Führung durch die Kölner Synagoge. Die Gruppe bekam einen Einblick in die jüdische Kultur und Tradition, aber auch in das heutige jüdische Leben. Sie erfuhr zum Beispiel, dass es eine App gibt, die Männer an die Gebetszeiten erinnert. In Köln durfte auch ein Besuch des Wahrzeichens der Stadt, dem Kölner Dom, nicht fehlen. Dort befindet sich das Grab von Richeza von Lothringen, Ehefrau von Mieszko II. und erste gekrönte Königin von Polen.
Am Abend fand im HAUS SCHLESIEN ein Gastvortrag des SPD-Bundestagsabgeordneten Sebastian Hartmann statt, der den Teilnehmern Ferdinand Lassalle vorstellte, den Gründer des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV), einer Vorläuferorganisation der heutigen SPD. Lassalle stammte aus einer jüdischen Familie aus Breslau. Heute erinnert seine Grabstätte auf dem Alten Jüdischen Friedhof in Breslau an ihn.
Am letzten Tag wanderten die Studenten trotz des regnerischen Wetters zu den Ruinen des Zisterzienserklosters Heisterbach. Dort konnten sie das größte Zisterzienserarchiv der Welt besichtigen. Zisterzienserklöster gibt es auch in Niederschlesien (Leubus, Heinrichau, Kamenz, Grüssau und Trebnitz) und in Böhmen (Ossegg und Plaß). Zum Abschluss der Woche setzten sich die Teilnehmer in einem Workshop sehr lebhaft mit dem Thema Stereotype über Polen, Deutsche und Tschechen auseinander.
Das Abschiednehmen war ausgesprochen herzlich und voller Pläne für ein nächstes Seminar. Um neue Bekanntschaften und Kenntnisse über ihre Heimat reicher, kehrten die Studenten nach Hause zurück.
Das Seminar wurde finanziert durch das Bundesministerium des Innern und für Heimat, die Deutsch-Polnische Gesellschaft der Universität Breslau und die Sanddorf-Stiftung.
Florian Paprotny
Studentenseminare 2021
Universität Breslau – Historisches Institut: Bericht zum Seminar vom 21.11. bis 27.11.2021
Nach einer pandemiebedingten Pause von fast zwei Jahren fand in der Woche vom 21. bis zum 27. November 2021 wieder ein langersehntes Seminar aus der Reihe „Schlesische Begegnungen“ im HAUS SCHLESIEN statt. Zu Gast war eine gemischte Gruppe der Universität Breslau/Wrocław und anderer befreundeter Institutionen, unter Leitung des Historikers Prof. Tomasz Przerwa.
Der erste Tag diente dem Kennenlernen des HAUS SCHLESIEN: nach einem Einführungsvortrag der Leiterin des Dokumentations- und Informationszentrums, Nicola Remig, besichtigte die Gruppe die Räumlichkeiten sowie das Gelände des Anwesens und erhielt Einblicke in die Geschichte des Vereins und sein grenzübergreifendes Tätigkeitsspektrum. Von der hauseigenen Bibliothek wurde fortan täglich Gebrauch gemacht, bis in die späten Abendstunden hinein. Die Bestände des Archivs wurden ebenfalls genutzt – vor allem die dort zahlreich vorhandenen Erlebnisberichte der deutschen Vertriebenen.
Ab dem zweiten Tag begannen die Exkursionen, deren Ziel es war, der polnischen Gruppe das Nachbarland Deutschland und seine Geschichte(n) näher zu bringen. Ein wesentlicher Teil der verständigungspolitischen Arbeit ist das gegenseitige Kennenlernen sowie Einblicke in diverse kulturelle und politische Entwicklungen. Während eines spontanen Ausflugs zum Drachenfels wurde den Teilnehmern die Nibelungensage erzählt und auf deren propagandistischen Missbrauch während der beiden Weltkriege eingegangen (die von Kaiser Wilhelm II. beschworene „Nibelungentreue“ Deutschlands zu Österreich und später Hermann Görings Rede über den Kampf in Stalingrad, in der er eine Analogie zum Endkampf in der brennenden Halle am Ende der Nibelungensage zog). Es wurde deutlich gemacht, wie ein kulturelles Werk nationalistisch aufgeladen und zur Manipulation der Menschen genutzt werden kann. Anschließend ging es nach Bonn, wo im Rahmen einer Führung durch Frau Dr. Inge Steinsträßer über den Alten Friedhof die Vielzahl an prominenten Personen, die dort begraben liegen, vorgestellt und in Bezug zur deutschen und europäischen Geschichte gesetzt wurde, so z.B. Robert Schumann, Ernst Moritz Arndt oder die Mutter von Ludwig van Beethoven. Ferner wurde thematisiert, dass sich auf dem Friedhof sowohl ein Denkmal für die französischen als auch eines für die deutschen Gefallenen befindet. Sogar ein irisches Grab befindet sich dort, erkennbar an dem charakteristischen Keltenkreuz. Der Friedhof steht somit für ein Zusammentreffen von verschiedenen Kulturen: Schon 1870/71 wurde nach dem deutsch-französischen Krieg ein Gefallenendenkmal mit der Inschrift errichtet, dass es nie wieder Krieg geben möge – ein Wunsch, der sich leider nicht erfüllte.
Zum Pflichtprogramm gehört immer der Besuch des Kölner Doms, der am dritten Tag absolviert wurde. Vielen ist nicht bewusst, dass im Dom die erste polnische Königin begraben liegt, Richeza von Lothringen. Sie war eine Nichte Kaiser Ottos III. und verheiratet mit dem polnischen König Mieszko II. (dieser war bereits der zweite König von Polen, sein Vater und Vorgänger Bolesław der Tapfere war bei der Krönung bereits verwitwet und verstarb kurz darauf). Anhand dieses Beispiels lässt sich die enge Verbindung von Deutschen und Polen im mittelalterlichen Europa darstellen und zwar schon ab der Geburtsstunde des Königreichs Polen. Im 20. Jahrhundert konzentrierte sich die Geschichtsschreibung beider Länder vor allem auf die Gegensätze: Die Geschichte von multiethnischen Gebieten wie Schlesien wurde oft ignoriert und stattdessen versucht zu beweisen, dass das Land der jeweils eigenen Seite gehöre – die deutsch-polnische Geschichte wirkte aus dieser Perspektive wie ein jahrhundertelang andauernder Kampf um das Grenzland. Ein Paradigmenwechsel setzte erst ab den 1990ern ein, weshalb dieser Gegensatz teilweise bis heute nachwirkt – daher ist es von enormer Bedeutung, an verbindende Persönlichkeiten zu erinnern. Auch das Schloss Augustusburg in Brühl wurde an diesem Tag besucht, die Residenz des Clemens August von Bayern. Dessen Mutter war die Tochter des polnischen Königs Johann Sobieski III. – ein weiteres Beispiel der Verwobenheit der deutsch-polnischen Geschichte.
Am vierten Tag wurde die Martin-Opitz-Bibliothek in Herne besucht. Der thematische Sammelschwerpunkt der Institution umfasst die deutsche Geschichte und Kultur im Osten Europas. Nach einem ausführlichen Vortrag zum grenzübergreifenden Tätigkeitsspektrum der Institution unter dem Zeichen der Völkerverständigung bestand auch hier die Möglichkeit zur Recherche, die voll ausgeschöpft wurde. Die Teilnehmer hatten schon im Vorfeld hunderte Bücher und Quellen zur Einsicht bestellt.
Am fünften Tag wurde die Woche noch einmal rekapituliert. Die Teilnehmer äußerten sich ausnahmslos positiv und waren dankbar für die umfangreichen Einblicke, Diskussionen, Recherchemöglichkeiten und das mannigfaltige Programm. Sie hätten in der Woche viel Neues über ihr Nachbarland gelernt und auch die eine oder andere Überraschung erlebt. Es wurde deutlich, wie wichtig ein Austausch zwischen Deutschen und Polen ist, da die politische Situation sich in den letzten Jahren deutlich verkompliziert hat.
Die interkulturelle Ausrichtung und das abgestimmte Programm machen die „Schlesischen Begegnungen“ zu einem einmaligen Ereignis – der Abschied löst selbst nach der kurzen Zeit immer ein wenig Wehmut aus. Einer der Teilnehmer verabschiedete sich vom Betreuer der Gruppe mit den Worten: „Sie waren die Seele dieser Fahrt“ – ein Kompliment und Dank für unsere Arbeit, wie es schöner nicht möglich ist.
Florian Paprotny
Studienwoche "Sinnliche Zugänge" 2020
Trinationale Begegnungen
Ein Bericht über die Studienwoche „Sinnliche Zugänge zu symbolischen Orten Vertriebener in Deutschland“ zur ethnografischen Erforschung der Bildungsstätten HAUS SCHLESIEN und Heiligenhof (04. – 11.01.2020) aus der Sicht der polnischen Teilnehmerin Ewa Biolik
Direkt zu Beginn des Jahres 2020, vom 4. bis 11. Januar 2020, fand im Heiligenhof (Bad Kissingen) und im HAUS SCHLESIEN (Königswinter) eine Studienwoche zum Thema „Sinnliche Zugänge zu symbolischen Orten Vertriebener in Deutschland“ statt. Sie wurde von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz organisiert und durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) im Rahmen ihres Förderprogramms „Vielstimmige Erinnerung – gemeinsames Erbe – europäische Zukunft: Kultur und Geschichte der Deutschen und ihrer Nachbarn im östlichen Europa“ und den Schroubek Fonds Östliches Europa finanziell unterstützt. An der Woche nahmen 19 Studierende der Kulturanthropologie der Universität Mainz, fünf Studierende verschiedener Fachrichtungen aus Tschechien und fünf Germanistikstudierende aus Polen teil. Alles wurde hervorragend von Frau Jun.-Prof. Dr. Sarah Scholl-Schneider und Frau Dr. Johanne Lefeldt von der Mainzer Universität organisiert und geleitet.
Das Ziel dieser Woche war es, den Studierenden die Geschichte und Kultur der Vertriebenen aus den ehemals deutschen oder deutschsprachigen Gebieten, die heute den östlichen Nachbarn Deutschlands angehören, näherzubringen und auf die Bedeutung der zwei Häuser als Bildungs- und Begegnungsstätten in der Vergangenheit, Gegenwart und für die Zukunft aufmerksam zu machen. Vor allem, weil eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Art von den Vertriebenen selbst geschaffenen Orten bislang weitestgehend aussteht, war ein sehr offenes ethnografisches Vorgehen vorgesehen. Bei diesem sollten die Studierenden Erfahrungen mit Methoden der Feldforschung sammeln und gleichzeitig eine Vielzahl von Quellen erheben, aufbereiten und in ersten Schritten analysieren. Die Studienwoche bestand aus zwei Teilen. Der erste Teil begann am Samstag, 4. Januar 2020 im Heiligenhof, an einem Ort, der an die ehemals deutschsprachigen Gebiete in der Tschechischen Republik erinnern soll und den sogenannten Sudetendeutschen nahe am Herzen liegt, und dauerte bis zum Mittwoch, 8. Januar 2020. Der Heiligenhof wurde 1952 als „Sudetendeutsche Heimstätte europäischer Jugend“ errichtet, diente als Ausbildungsort für Jugendleiter und politische Bildungsstätte. Heute ist das ehemalige Landhaus im Ortsteil Garitz von Bad Kissingen nicht nur Begegnungsstätte Sudetendeutscher und zwischen Deutschen und ihren östlichen Nachbarn, sondern lädt als Jugendherberge auch Besucher ohne Bezug zu der Geschichte des Hauses ein. Vom Heiligenhof ging es per Bustransfer zum zweiten Teil der Studienwoche, der vom Mittwoch, 08. Januar bis zum Samstag, 11. Januar 2020 im HAUS SCHLESIEN stattfand. Dieses Haus wurde durch den Erwerb eines ehemaligen Fronhofs in Heisterbacherrott durch den Verein HAUS SCHLESIEN e.V. 1978 mit dem Ziel gegründet, eine Begegnungsstätte für die vertriebenen Schlesier und deren Vereinigungen einzurichten. HAUS SCHLESIEN wird durch einen integrierten Hotelbetrieb ebenso wie der Heiligenhof aber auch von Touristen ohne Bezug zu Schlesien aufgesucht.
Ich entschied mich für die Teilnahme an der Studienwoche, weil ich unbedingt das HAUS SCHLESIEN kennenlernen wollte und ich war neugierig, wie die Erinnerungskultur an Schlesien in Deutschland gepflegt wird. Ich war auch interessiert, womit sich die Kulturanthropologie befasst und wie ethnografische Forschungsmethoden aussehen. Außerdem wusste ich, dass eine Reise, an der auch deutsche und tschechische Studierende teilnehmen, eine gute Gelegenheit wird, Meinungen und Erfahrungen auszutauschen und die Fremdsprachenkenntnisse zu trainieren.
Während der Woche beschäftigten wir uns zunächst mit den historischen Hintergründen der Häuser und lernten verschiedene methodische Zugänge ethnografischen Forschens kennen. Am Anfang konnten wir in die Thematik der Heimatvertriebenen, Flüchtlinge und ihres Heimwehs eintauchen, indem wir Vorträge von Dr. Tobias Weger und Dr. Elisabeth Fendl hörten. Am zweiten Tag unseres Aufenthaltes in Bad Kissingen gab uns Gustav Binder, der Studienleiter im Heiligenhof, eine Führung durch das Gebäude und die Umgebung, womit wir forschungspraktisch gesprochen bereits ein erstes bewegtes Interview im Feld erlebten und dokumentierten.
Der nächste Schritt war das theoretische Kennenlernen und praktische Ausprobieren verschiedener weiterer Forschungsmethoden und wie man mit dem erhobenen Material umgehen soll. Von Ingrid Sauer, M.A., Sudetendeutsches Archiv im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München, erfuhren wir, welches Material vom Heiligenhof bereits archiviert und der Institution übergeben wurde. Wir forschten rund um den Heiligenhof und über die Leute, die mit dem Haus verbunden sind oder waren. Jede/r konnte sich damit befassen, was sie/ihn am meisten interessierte. Eine Gruppe von Forschenden, die aus Mitgliedern sowohl aus Deutschland als auch aus Tschechien und aus Polen bestand, arbeitete in einem Treppenhaus, das ein besonderer Platz in dem Gebäude des Heiligenhofs ist, da es sehr viele Gegenstände beherbergt, die an das Sudetenland und die Sudetendeutschen erinnern. Die Gruppe nahm Fotos auf, beschrieb und katalogisierte alle Bilder, Landkarten und Erinnerungsstücke, die an den Wänden des Treppenhauses hingen. Es war eine mühsame Aufgabe, das Treppenhaus wurde aber zum ersten Mal so sorgfältig inventarisiert. In derselben Zeit unseres Aufenthaltes im Heiligenhof fand eine Werkwoche statt, deren Mitglieder sich schon jahrelang dort zum Handarbeiten treffen. Dies stellte für uns eine gute Forschungsgelegenheit dar, weil manche von dieser Gruppe aus dem Sudetenland stammten und Zeitzeugen der Vertreibung waren. Einige von uns gingen auch in das Stadtzentrum und befragten Bewohner Bad Kissingens, was sie vom Heiligenhof wissen. Erstaunlicherweise wussten ganz wenige etwas von der Begegnungsstätte und von der Thematik, mit der sie verbunden ist. Am vorletzten Tag im Heiligenhof präsentierten wir im Plenum, was wir gesammelt und erfahren hatten.
Ähnliche Aufgaben erwarteten uns im HAUS SCHLESIEN. Man kann aber sagen, dass dort unsere Arbeit ganz anders aussah, weil es in diesem Haus unvergleichbar mehr Gegenstände und Ideen zum Forschen gab. Bevor wir uns jedoch an die Arbeit machten, begrüßte uns Nicola Remig, die Leiterin des Dokumentations- und Informationszentrums im HAUS SCHLESIEN. Sie erzählte uns viel von der Geschichte des Hauses, wie es sich entwickelt hatte und welche Pläne es für seine Zukunft gibt. Wir lernten die ganze Umgebung des Hauses kennen und wurden durch das Museum geführt, wo die komplizierte Geschichte Schlesiens und verschiedene Ausstellungsstücke dar- und ausgestellt sind. Als Vorbereitung zu unserer Forschungsarbeit hielt die Bonner Musikwissenschaftlerin Annelie Kürsten einen Vortrag über auditive Erinnerungsorte und wie man dank der sinnlichen Technik des Zuhörens forschen kann. In den nächsten zwei Tagen tauchten wir in das Museum, Archiv oder in die Bibliothek ein und schauten uns das Haus und seine Umgebung genauer an. Wir machten Recherchen, führten Interviews, untersuchten Gästebücher und nahmen Fotos und Videos, sowie, angeregt durch den Vortrag, auch Klänge auf. Im HAUS SCHLESIEN hatten wir auch die Möglichkeit, die schlesischen kulinarischen Spezialitäten zu probieren.
Gemeinsam mit zwei anderen Teilnehmenden aus Polen fragte ich mich, was die Menschen in der Umgebung von HAUS SCHLESIEN über diese Begegnungsstätte wissen. Wir fuhren nach Niederdollendorf und Königswinter und befragten Passantinnen und Passanten. Es war nicht immer einfach. Wir mussten unsere Hemmungen überwinden, und es war für uns eine ganz neue Erfahrung. Es überraschte uns aber wie ergebnisreich diese Forschungsmethode sein kann. Aus den Gesprächen konnten wir festhalten, dass das Haus fast jedem bekannt ist und die Mehrheit unserer Befragten mindestens einmal dort war und diese Begegnungsstätte positiv einschätzt. Unter anderen trafen wir drei Männer, die alte Freunde waren und sich seit Jahren regelmäßig treffen. Sie stammen aus den ehemaligen deutschen Gebieten Sudetenland, Ostpreußen und Schlesien. Sie erzählten uns ein wenig aus ihrem Leben und woran sie sich noch erinnern können, wenn es um die Vertreibung geht. Ich muss sagen, dass das Interviewen für uns unglaublich erlebnisreich war.
Am letzten Abend der Studienwoche gab es eine öffentliche Podiumsdiskussion, die die beiden Häuser als Erinnerungsstätten und die Aussichten für ihre Zukunft in den Mittelpunkt stellte. Zum Gespräch wurden Vertreter des Heiligenhofs, Hans Knapek und Gustav Binder, und vom HAUS SCHLESIEN, Prof. Dr. Michael Pietsch und Nicola Remig, eingeladen. Tschechien repräsentierte die Ethnologin Mgr. Jana Nosková Ph.D., und ich selbst hatte die Ehre, Polen zu vertreten. Die Diskussion wurde von Daniel Kraft von der Bundeszentrale für politische Bildung geleitet, der mit beiden Häusern sowie dem Thema von Bildungsarbeit bestens vertraut ist. An Podiumsdiskussionen hatte ich bisher immer nur als Zuhörerin teilgenommen, weshalb ich ein wenig Angst vor der Veranstaltung hatte. Dass ich aber aus Schlesien, aus Katowice, komme, trieb mich an, an der Diskussion als junge Stimme des heutigen Schlesiens teilzunehmen. Schließlich ist Schlesien nicht nur eine Heimat der deutschen Vertriebenen, sondern ist auch die Heimat aller, die heutzutage dort leben. Es ist sehr wichtig, dass die Menschen, die in der Gegenwart in Schlesien wohnen, die Geschichte ihrer Region besser kennenlernen und dass die deutschen Vertriebenen und ihre Nachkommen in Deutschland das heutige Schlesien kennen- und respektieren lernen.
Das Resultat unserer Erhebungen während der Studienwoche ist mit Sicherheit der Gewinn wertvollen Materials zu weiteren Arbeiten. Jeder Schritt im Prozess wurde sorgfältig protokolliert, aufbereitet und archiviert. Einige der geführten Interviews wurden direkt transkribiert. Damit wir und auch andere in der Zukunft einen Nutzen von den digitalisierten Forschungsdaten haben, hatte Maria Adam, M.A. von der Universität Mainz ein Lern-Management-System eingerichtet, in dem wir kommunizieren und archivieren konnten.
Die Studienwoche war sicherlich für alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen spannend. Für mich war die Woche ein Austausch von Kulturen, Meinungen, Erfahrungen und das Kennenlernen ganz anderer wissenschaftlicher Felder, mit denen ich mich bisher nicht beschäftigt hatte. Zusätzlich, vor allem im HAUS SCHLESIEN, war es eine wundervolle Reise in meine kleine Heimat Schlesien, die hier aber aus einer anderen als meiner eigenen Perspektive gesehen und dargestellt ist. Ich finde es ganz wichtig, dass alle, vor allem junge Menschen die Geschichte kennen lernen und sie mit der heutigen Zeit verknüpfen können.
Ewa Biolik, Studentin der Germanistik an der Schlesischen Universität in Katowice, Polen