STUDENTENSEMINARE

Unter dem Titel „Schlesische Begegnungen“ finden jedes Jahr ca. 10 Seminare in Zusammenarbeit mit polnischen Hochschulen im HAUS SCHLESIEN statt. Hierzu kommen mit finanzieller Unterstützung des Bundesministeriums des Innern polnische Germanistik- und Geschichtsstudenten zu jeweils einwöchigen Seminaren nach Königswinter. Zu dem umfassenden Programm gehören u.a. Zeitzeugengespräche, Exkursionen und die intensive Bearbeitung von Themen im Spektrum Deutschland – Polen. Die Seminare werden von den Universitäten offiziell für den Studiengang anerkannt.
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Academia Silesia 2022

Zweite „Academia Silesia“ im HAUS SCHLESIEN – junge Multiplikatoren im deutsch-polnischen Dialog
Ein besonderer Höhepunkt des Jahres 2022 im HAUS SCHLESIEN war die „Academia Silesia“, bei der im Rahmen der Seminarreihe „Schlesische Begegnungen“ deutsche und polnische Studierende eine inhalts- und erlebnisreiche Woche miteinander verbrachten. Es war die zweite Veranstaltung dieser Art überhaupt. Organisiert wurde das vielfältige Programm federführend von Adam Wojtala vom Dokumentations- und Informationszentrum (DIZ) im HAUS SCHLESIEN, für das Konzept verantwortlich waren Prof. Dr. Marek Hałub vom Germanistischen Institut der Universität Wrocław, Dr. Christoph Studt vom Institut für Geschichtswissenschaft der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität und die Leiterin des DIZ, Nicola Remig.
Während bei den „Schlesischen Begegnungen“ polnische (und bald auch wieder tschechische) Studierende zu Besuch ins HAUS SCHLESIEN kommen und nur gelegentlich auf deutsche Kommilitoninnen und Kommilitonen treffen, absolvierte die binationale Academia-Gruppe von Anfang an ein gemeinsames Programm. Dazu gehörten neben dem Besuch des Kölner Doms als Ruhestätte der ersten polnischen Königin Richeza von Lothringen und des Hauses der Geschichte in Bonn auch eine Exkursion nach Brüssel ins Europäische Parlament und wissenschaftliche Vorträge. Ziel war es, nationale Blickwinkel zu überdenken und die deutsch-polnische Geschichte in Bezug auf die Region Schlesien aus europäischer Perspektive zu betrachten. So wurden die Verflechtungen des gemeinsamen Kulturerbes in Schlesien anhand europäischer Erinnerungsorte herausgestellt.
Der erste Tag im HAUS SCHLESIEN diente dem Kennenlernen, sowohl der Einrichtung als Gastgeber als auch der Gruppe untereinander. Die Studierenden bekamen einen Einblick in die Beschäftigung beider Hochschulen mit dem Lehrgegenstand Schlesien. Nach einer thematischen Einführung hatten sie die Gelegenheit, das Haus im Rahmen einer Rallye zu erkunden und die neu konzipierte multimediale Dauerausstellung kennenzulernen. Anschließend konnten eigene Forschungsprojekte mit den Beständen der hauseigenen Bibliothek verfolgt werden.
Am zweiten Tag fuhr die Gruppe nach Brüssel, wo das Büro des Europaabgeordneten Axel Voss eine Führung durch das Europäische Parlament organisiert hatte. Nach der Besichtigung und Erklärung der Arbeitsweise des Parlamentes standen die beiden Mitarbeiter bei einer Fragerunde den Studierenden Rede und Antwort. Anschließend war noch Zeit für Sightseeing und den Einkauf echter belgischer Trüffel. Am nächsten Morgen ging es zum Haus der Europäischen Geschichte, dessen Dauerausstellung sich mit dem Entstehen von Europa und der Entwicklung einer europäischen Identität befasst. Dabei werden historische, soziale und politische Themenfelder in einer beeindruckenden Darstellung verwoben, von den ersten Anfängen bis zur heutigen Zeit. Die Studierenden setzten sich kritisch mit den erinnerungskulturellen Aspekten der Ausstellung auseinander. Auf der Rückreise legte die Gruppe noch einen Zwischenstopp in der Europastadt Aachen ein, wo zwei studentische Stadtführer den Bonnern und Breslauern die Stadt zeigten und über das Aachener Studentenleben erzählten. Nach einem gemeinsamen Kaffee ging es zurück nach Königswinter.
Der nächste Tag startete mit einem Impulsvortrag von Dr. Christoph Studt über den Kreisauer Kreis und seine Zukunftsvisionen für Polen und Europa nach der Überwindung des Nationalsozialismus. Er stellte dabei die Strukturen und Zielvorstellungen dieser zivilen Widerstandsgruppe um Helmuth James Graf von Moltke und Peter Graf Yorck von Wartenburg vor. Dr. Mariusz Dzieweczyński referierte am Mittag über den Streit um die Benennung der Breslauer Jahrhundert- bzw. Volkshalle. Hier wurde deutlich, dass schon allein ein Name unterschiedliche erinnerungskulturelle Aspekte ansprechen kann. Am Nachmittag ging es zum Haus der Geschichte in Bonn, das seit Jahren ein erprobter Pflichtprogrammpunkt der Studienseminare im HAUS SCHLESIEN ist. Dabei lernten die Studierenden etwas über die Erinnerungskultur der Bundesrepublik und über ihr Selbstverständnis nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Tag wurde abgerundet durch den Vortrag von Prof. Dr. Matthias Weber über die polnische Herrscherdynastie der Piasten, die mit Boleslaw dem Tapferen den ersten polnischen König stellte, und ihre europäischen Verflechtungen. Weber stellte deren erinnerungskulturellen Bezüge für Deutschland, Polen und Frankreich heraus. Am letzten Tag ging es dann zum Kölner Dom, der Ruhstätte der ersten polnischen Königin Richeza. Diese hatte den Piastenherzog Mieszko II. geheiratet, den Sohn Boleslaws des Tapferen, der bereits kurz nach der Krönung verstorben war. An diesem Beispiel wird deutlich, dass gerade die Herrscherdynastien transnationale Verflechtungen bildeten, die sich den seit dem 19. Jahrhundert entstandenen nationalen Geschichtsdeutungen entziehen. Am Nachmittag referierte Dr. Edyta Gorząd-Biskup über die Rolle der katholischen Kirche im Prozess deutsch-polnischen Versöhnung der letzten Jahrzehnte.
Bei der Abschlussdiskussion wurde deutlich, dass Veranstaltungen wie diese in bedeutender Weise zur Verständigung sowie zum Austausch auf bilateraler Ebene beitragen – das bestätigten die positiven Resümees der Studierenden einstimmig.
Florian Paprotny
Studentenseminare 2021

Universität Breslau – Historisches Institut: Bericht zum Seminar vom 21.11. bis 27.11.2021
Nach einer pandemiebedingten Pause von fast zwei Jahren fand in der Woche vom 21. bis zum 27. November 2021 wieder ein langersehntes Seminar aus der Reihe „Schlesische Begegnungen“ im HAUS SCHLESIEN statt. Zu Gast war eine gemischte Gruppe der Universität Breslau/Wrocław und anderer befreundeter Institutionen, unter Leitung des Historikers Prof. Tomasz Przerwa.
Der erste Tag diente dem Kennenlernen des HAUS SCHLESIEN: nach einem Einführungsvortrag der Leiterin des Dokumentations- und Informationszentrums, Nicola Remig, besichtigte die Gruppe die Räumlichkeiten sowie das Gelände des Anwesens und erhielt Einblicke in die Geschichte des Vereins und sein grenzübergreifendes Tätigkeitsspektrum. Von der hauseigenen Bibliothek wurde fortan täglich Gebrauch gemacht, bis in die späten Abendstunden hinein. Die Bestände des Archivs wurden ebenfalls genutzt – vor allem die dort zahlreich vorhandenen Erlebnisberichte der deutschen Vertriebenen.
Ab dem zweiten Tag begannen die Exkursionen, deren Ziel es war, der polnischen Gruppe das Nachbarland Deutschland und seine Geschichte(n) näher zu bringen. Ein wesentlicher Teil der verständigungspolitischen Arbeit ist das gegenseitige Kennenlernen sowie Einblicke in diverse kulturelle und politische Entwicklungen. Während eines spontanen Ausflugs zum Drachenfels wurde den Teilnehmern die Nibelungensage erzählt und auf deren propagandistischen Missbrauch während der beiden Weltkriege eingegangen (die von Kaiser Wilhelm II. beschworene „Nibelungentreue“ Deutschlands zu Österreich und später Hermann Görings Rede über den Kampf in Stalingrad, in der er eine Analogie zum Endkampf in der brennenden Halle am Ende der Nibelungensage zog). Es wurde deutlich gemacht, wie ein kulturelles Werk nationalistisch aufgeladen und zur Manipulation der Menschen genutzt werden kann. Anschließend ging es nach Bonn, wo im Rahmen einer Führung durch Frau Dr. Inge Steinsträßer über den Alten Friedhof die Vielzahl an prominenten Personen, die dort begraben liegen, vorgestellt und in Bezug zur deutschen und europäischen Geschichte gesetzt wurde, so z.B. Robert Schumann, Ernst Moritz Arndt oder die Mutter von Ludwig van Beethoven. Ferner wurde thematisiert, dass sich auf dem Friedhof sowohl ein Denkmal für die französischen als auch eines für die deutschen Gefallenen befindet. Sogar ein irisches Grab befindet sich dort, erkennbar an dem charakteristischen Keltenkreuz. Der Friedhof steht somit für ein Zusammentreffen von verschiedenen Kulturen: Schon 1870/71 wurde nach dem deutsch-französischen Krieg ein Gefallenendenkmal mit der Inschrift errichtet, dass es nie wieder Krieg geben möge – ein Wunsch, der sich leider nicht erfüllte.
Zum Pflichtprogramm gehört immer der Besuch des Kölner Doms, der am dritten Tag absolviert wurde. Vielen ist nicht bewusst, dass im Dom die erste polnische Königin begraben liegt, Richeza von Lothringen. Sie war eine Nichte Kaiser Ottos III. und verheiratet mit dem polnischen König Mieszko II. (dieser war bereits der zweite König von Polen, sein Vater und Vorgänger Bolesław der Tapfere war bei der Krönung bereits verwitwet und verstarb kurz darauf). Anhand dieses Beispiels lässt sich die enge Verbindung von Deutschen und Polen im mittelalterlichen Europa darstellen und zwar schon ab der Geburtsstunde des Königreichs Polen. Im 20. Jahrhundert konzentrierte sich die Geschichtsschreibung beider Länder vor allem auf die Gegensätze: Die Geschichte von multiethnischen Gebieten wie Schlesien wurde oft ignoriert und stattdessen versucht zu beweisen, dass das Land der jeweils eigenen Seite gehöre – die deutsch-polnische Geschichte wirkte aus dieser Perspektive wie ein jahrhundertelang andauernder Kampf um das Grenzland. Ein Paradigmenwechsel setzte erst ab den 1990ern ein, weshalb dieser Gegensatz teilweise bis heute nachwirkt – daher ist es von enormer Bedeutung, an verbindende Persönlichkeiten zu erinnern. Auch das Schloss Augustusburg in Brühl wurde an diesem Tag besucht, die Residenz des Clemens August von Bayern. Dessen Mutter war die Tochter des polnischen Königs Johann Sobieski III. – ein weiteres Beispiel der Verwobenheit der deutsch-polnischen Geschichte.
Am vierten Tag wurde die Martin-Opitz-Bibliothek in Herne besucht. Der thematische Sammelschwerpunkt der Institution umfasst die deutsche Geschichte und Kultur im Osten Europas. Nach einem ausführlichen Vortrag zum grenzübergreifenden Tätigkeitsspektrum der Institution unter dem Zeichen der Völkerverständigung bestand auch hier die Möglichkeit zur Recherche, die voll ausgeschöpft wurde. Die Teilnehmer hatten schon im Vorfeld hunderte Bücher und Quellen zur Einsicht bestellt.
Am fünften Tag wurde die Woche noch einmal rekapituliert. Die Teilnehmer äußerten sich ausnahmslos positiv und waren dankbar für die umfangreichen Einblicke, Diskussionen, Recherchemöglichkeiten und das mannigfaltige Programm. Sie hätten in der Woche viel Neues über ihr Nachbarland gelernt und auch die eine oder andere Überraschung erlebt. Es wurde deutlich, wie wichtig ein Austausch zwischen Deutschen und Polen ist, da die politische Situation sich in den letzten Jahren deutlich verkompliziert hat.
Die interkulturelle Ausrichtung und das abgestimmte Programm machen die „Schlesischen Begegnungen“ zu einem einmaligen Ereignis – der Abschied löst selbst nach der kurzen Zeit immer ein wenig Wehmut aus. Einer der Teilnehmer verabschiedete sich vom Betreuer der Gruppe mit den Worten: „Sie waren die Seele dieser Fahrt“ – ein Kompliment und Dank für unsere Arbeit, wie es schöner nicht möglich ist.
Florian Paprotny
Studienwoche "Sinnliche Zugänge" 2020
Trinationale Begegnungen
Ein Bericht über die Studienwoche „Sinnliche Zugänge zu symbolischen Orten Vertriebener in Deutschland“ zur ethnografischen Erforschung der Bildungsstätten HAUS SCHLESIEN und Heiligenhof (04. – 11.01.2020) aus der Sicht der polnischen Teilnehmerin Ewa Biolik
Direkt zu Beginn des Jahres 2020, vom 4. bis 11. Januar 2020, fand im Heiligenhof (Bad Kissingen) und im HAUS SCHLESIEN (Königswinter) eine Studienwoche zum Thema „Sinnliche Zugänge zu symbolischen Orten Vertriebener in Deutschland“ statt. Sie wurde von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz organisiert und durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) im Rahmen ihres Förderprogramms „Vielstimmige Erinnerung – gemeinsames Erbe – europäische Zukunft: Kultur und Geschichte der Deutschen und ihrer Nachbarn im östlichen Europa“ und den Schroubek Fonds Östliches Europa finanziell unterstützt. An der Woche nahmen 19 Studierende der Kulturanthropologie der Universität Mainz, fünf Studierende verschiedener Fachrichtungen aus Tschechien und fünf Germanistikstudierende aus Polen teil. Alles wurde hervorragend von Frau Jun.-Prof. Dr. Sarah Scholl-Schneider und Frau Dr. Johanne Lefeldt von der Mainzer Universität organisiert und geleitet.
Das Ziel dieser Woche war es, den Studierenden die Geschichte und Kultur der Vertriebenen aus den ehemals deutschen oder deutschsprachigen Gebieten, die heute den östlichen Nachbarn Deutschlands angehören, näherzubringen und auf die Bedeutung der zwei Häuser als Bildungs- und Begegnungsstätten in der Vergangenheit, Gegenwart und für die Zukunft aufmerksam zu machen. Vor allem, weil eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Art von den Vertriebenen selbst geschaffenen Orten bislang weitestgehend aussteht, war ein sehr offenes ethnografisches Vorgehen vorgesehen. Bei diesem sollten die Studierenden Erfahrungen mit Methoden der Feldforschung sammeln und gleichzeitig eine Vielzahl von Quellen erheben, aufbereiten und in ersten Schritten analysieren. Die Studienwoche bestand aus zwei Teilen. Der erste Teil begann am Samstag, 4. Januar 2020 im Heiligenhof, an einem Ort, der an die ehemals deutschsprachigen Gebiete in der Tschechischen Republik erinnern soll und den sogenannten Sudetendeutschen nahe am Herzen liegt, und dauerte bis zum Mittwoch, 8. Januar 2020. Der Heiligenhof wurde 1952 als „Sudetendeutsche Heimstätte europäischer Jugend“ errichtet, diente als Ausbildungsort für Jugendleiter und politische Bildungsstätte. Heute ist das ehemalige Landhaus im Ortsteil Garitz von Bad Kissingen nicht nur Begegnungsstätte Sudetendeutscher und zwischen Deutschen und ihren östlichen Nachbarn, sondern lädt als Jugendherberge auch Besucher ohne Bezug zu der Geschichte des Hauses ein. Vom Heiligenhof ging es per Bustransfer zum zweiten Teil der Studienwoche, der vom Mittwoch, 08. Januar bis zum Samstag, 11. Januar 2020 im HAUS SCHLESIEN stattfand. Dieses Haus wurde durch den Erwerb eines ehemaligen Fronhofs in Heisterbacherrott durch den Verein HAUS SCHLESIEN e.V. 1978 mit dem Ziel gegründet, eine Begegnungsstätte für die vertriebenen Schlesier und deren Vereinigungen einzurichten. HAUS SCHLESIEN wird durch einen integrierten Hotelbetrieb ebenso wie der Heiligenhof aber auch von Touristen ohne Bezug zu Schlesien aufgesucht.
Ich entschied mich für die Teilnahme an der Studienwoche, weil ich unbedingt das HAUS SCHLESIEN kennenlernen wollte und ich war neugierig, wie die Erinnerungskultur an Schlesien in Deutschland gepflegt wird. Ich war auch interessiert, womit sich die Kulturanthropologie befasst und wie ethnografische Forschungsmethoden aussehen. Außerdem wusste ich, dass eine Reise, an der auch deutsche und tschechische Studierende teilnehmen, eine gute Gelegenheit wird, Meinungen und Erfahrungen auszutauschen und die Fremdsprachenkenntnisse zu trainieren.
Während der Woche beschäftigten wir uns zunächst mit den historischen Hintergründen der Häuser und lernten verschiedene methodische Zugänge ethnografischen Forschens kennen. Am Anfang konnten wir in die Thematik der Heimatvertriebenen, Flüchtlinge und ihres Heimwehs eintauchen, indem wir Vorträge von Dr. Tobias Weger und Dr. Elisabeth Fendl hörten. Am zweiten Tag unseres Aufenthaltes in Bad Kissingen gab uns Gustav Binder, der Studienleiter im Heiligenhof, eine Führung durch das Gebäude und die Umgebung, womit wir forschungspraktisch gesprochen bereits ein erstes bewegtes Interview im Feld erlebten und dokumentierten.
Der nächste Schritt war das theoretische Kennenlernen und praktische Ausprobieren verschiedener weiterer Forschungsmethoden und wie man mit dem erhobenen Material umgehen soll. Von Ingrid Sauer, M.A., Sudetendeutsches Archiv im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München, erfuhren wir, welches Material vom Heiligenhof bereits archiviert und der Institution übergeben wurde. Wir forschten rund um den Heiligenhof und über die Leute, die mit dem Haus verbunden sind oder waren. Jede/r konnte sich damit befassen, was sie/ihn am meisten interessierte. Eine Gruppe von Forschenden, die aus Mitgliedern sowohl aus Deutschland als auch aus Tschechien und aus Polen bestand, arbeitete in einem Treppenhaus, das ein besonderer Platz in dem Gebäude des Heiligenhofs ist, da es sehr viele Gegenstände beherbergt, die an das Sudetenland und die Sudetendeutschen erinnern. Die Gruppe nahm Fotos auf, beschrieb und katalogisierte alle Bilder, Landkarten und Erinnerungsstücke, die an den Wänden des Treppenhauses hingen. Es war eine mühsame Aufgabe, das Treppenhaus wurde aber zum ersten Mal so sorgfältig inventarisiert. In derselben Zeit unseres Aufenthaltes im Heiligenhof fand eine Werkwoche statt, deren Mitglieder sich schon jahrelang dort zum Handarbeiten treffen. Dies stellte für uns eine gute Forschungsgelegenheit dar, weil manche von dieser Gruppe aus dem Sudetenland stammten und Zeitzeugen der Vertreibung waren. Einige von uns gingen auch in das Stadtzentrum und befragten Bewohner Bad Kissingens, was sie vom Heiligenhof wissen. Erstaunlicherweise wussten ganz wenige etwas von der Begegnungsstätte und von der Thematik, mit der sie verbunden ist. Am vorletzten Tag im Heiligenhof präsentierten wir im Plenum, was wir gesammelt und erfahren hatten.
Ähnliche Aufgaben erwarteten uns im HAUS SCHLESIEN. Man kann aber sagen, dass dort unsere Arbeit ganz anders aussah, weil es in diesem Haus unvergleichbar mehr Gegenstände und Ideen zum Forschen gab. Bevor wir uns jedoch an die Arbeit machten, begrüßte uns Nicola Remig, die Leiterin des Dokumentations- und Informationszentrums im HAUS SCHLESIEN. Sie erzählte uns viel von der Geschichte des Hauses, wie es sich entwickelt hatte und welche Pläne es für seine Zukunft gibt. Wir lernten die ganze Umgebung des Hauses kennen und wurden durch das Museum geführt, wo die komplizierte Geschichte Schlesiens und verschiedene Ausstellungsstücke dar- und ausgestellt sind. Als Vorbereitung zu unserer Forschungsarbeit hielt die Bonner Musikwissenschaftlerin Annelie Kürsten einen Vortrag über auditive Erinnerungsorte und wie man dank der sinnlichen Technik des Zuhörens forschen kann. In den nächsten zwei Tagen tauchten wir in das Museum, Archiv oder in die Bibliothek ein und schauten uns das Haus und seine Umgebung genauer an. Wir machten Recherchen, führten Interviews, untersuchten Gästebücher und nahmen Fotos und Videos, sowie, angeregt durch den Vortrag, auch Klänge auf. Im HAUS SCHLESIEN hatten wir auch die Möglichkeit, die schlesischen kulinarischen Spezialitäten zu probieren.
Gemeinsam mit zwei anderen Teilnehmenden aus Polen fragte ich mich, was die Menschen in der Umgebung von HAUS SCHLESIEN über diese Begegnungsstätte wissen. Wir fuhren nach Niederdollendorf und Königswinter und befragten Passantinnen und Passanten. Es war nicht immer einfach. Wir mussten unsere Hemmungen überwinden, und es war für uns eine ganz neue Erfahrung. Es überraschte uns aber wie ergebnisreich diese Forschungsmethode sein kann. Aus den Gesprächen konnten wir festhalten, dass das Haus fast jedem bekannt ist und die Mehrheit unserer Befragten mindestens einmal dort war und diese Begegnungsstätte positiv einschätzt. Unter anderen trafen wir drei Männer, die alte Freunde waren und sich seit Jahren regelmäßig treffen. Sie stammen aus den ehemaligen deutschen Gebieten Sudetenland, Ostpreußen und Schlesien. Sie erzählten uns ein wenig aus ihrem Leben und woran sie sich noch erinnern können, wenn es um die Vertreibung geht. Ich muss sagen, dass das Interviewen für uns unglaublich erlebnisreich war.
Am letzten Abend der Studienwoche gab es eine öffentliche Podiumsdiskussion, die die beiden Häuser als Erinnerungsstätten und die Aussichten für ihre Zukunft in den Mittelpunkt stellte. Zum Gespräch wurden Vertreter des Heiligenhofs, Hans Knapek und Gustav Binder, und vom HAUS SCHLESIEN, Prof. Dr. Michael Pietsch und Nicola Remig, eingeladen. Tschechien repräsentierte die Ethnologin Mgr. Jana Nosková Ph.D., und ich selbst hatte die Ehre, Polen zu vertreten. Die Diskussion wurde von Daniel Kraft von der Bundeszentrale für politische Bildung geleitet, der mit beiden Häusern sowie dem Thema von Bildungsarbeit bestens vertraut ist. An Podiumsdiskussionen hatte ich bisher immer nur als Zuhörerin teilgenommen, weshalb ich ein wenig Angst vor der Veranstaltung hatte. Dass ich aber aus Schlesien, aus Katowice, komme, trieb mich an, an der Diskussion als junge Stimme des heutigen Schlesiens teilzunehmen. Schließlich ist Schlesien nicht nur eine Heimat der deutschen Vertriebenen, sondern ist auch die Heimat aller, die heutzutage dort leben. Es ist sehr wichtig, dass die Menschen, die in der Gegenwart in Schlesien wohnen, die Geschichte ihrer Region besser kennenlernen und dass die deutschen Vertriebenen und ihre Nachkommen in Deutschland das heutige Schlesien kennen- und respektieren lernen.
Das Resultat unserer Erhebungen während der Studienwoche ist mit Sicherheit der Gewinn wertvollen Materials zu weiteren Arbeiten. Jeder Schritt im Prozess wurde sorgfältig protokolliert, aufbereitet und archiviert. Einige der geführten Interviews wurden direkt transkribiert. Damit wir und auch andere in der Zukunft einen Nutzen von den digitalisierten Forschungsdaten haben, hatte Maria Adam, M.A. von der Universität Mainz ein Lern-Management-System eingerichtet, in dem wir kommunizieren und archivieren konnten.
Die Studienwoche war sicherlich für alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen spannend. Für mich war die Woche ein Austausch von Kulturen, Meinungen, Erfahrungen und das Kennenlernen ganz anderer wissenschaftlicher Felder, mit denen ich mich bisher nicht beschäftigt hatte. Zusätzlich, vor allem im HAUS SCHLESIEN, war es eine wundervolle Reise in meine kleine Heimat Schlesien, die hier aber aus einer anderen als meiner eigenen Perspektive gesehen und dargestellt ist. Ich finde es ganz wichtig, dass alle, vor allem junge Menschen die Geschichte kennen lernen und sie mit der heutigen Zeit verknüpfen können.
Ewa Biolik, Studentin der Germanistik an der Schlesischen Universität in Katowice, Polen
Academia Silesia 2019
Academia Silesia
Junge Multiplikatoren im deutsch-polnischen Dialog
Den Kulturraum Schlesien im Rahmen gegenwärtiger, europäisch fokussierter Erinnerungsdebatten zu situieren war das Ziel der akademischen Veranstaltung “Academia Silesia”, einer vom 8. bis zum 14. Dezember 2019 in HAUS SCHLESIEN stattfindenden, vom Bundesinnenministerium und der Kulturreferentin für Schlesien, Agnieszka Bormann, finanzierten Studienwoche für polnische und deutsche Studierende aus Breslau und Bonn. Sie bot jungen Menschen beider Nationen eine passende Gelegenheit am Identitäts- und Erinnerungsdiskurs mit den Eckpunkten “Schlesien” und “Europa” aktiv teilzunehmen. Die drei beteiligten Institutionen aus Königswinter, Bonn und Breslau setzen sich seit vielen Jahren, primär u.a. die Ausbildung von Multiplikatoren, für den internationalen, grenzüberschreitenden, vor allem deutsch-polnischen Dialog zum Ziel.
Die binationale Gruppe bestand aus polnischen Germanistikstudenten der Universität Wrocław und deutschen Geschichtsstudenten der Universität Bonn, eine Konstellation, die einen spannenden Erfahrungsaustausch interdisziplinären Charakters zwischen Studierenden zweier unterschiedlicher geisteswissenschaftlicher Fachrichtungen versprach. Neben der schlesischen Kulturgeschichte standen die deutsch-polnischen Beziehungen sowie das gemeinsame Kulturerbe Europas im Mittelpunkt des höchst abwechslungsreichen Programms.
Am ersten Veranstaltungstag haben sich die Organisatoren und Teilnehmer der “Academia” vorgestellt. Die Gastgeber, der Präsident des Vereins HAUS SCHLESIEN, Prof. Michael Pietsch sowie Nicola Remig, Leiterin des Dokumentations- und Informationszentrums, machten die Zuhörer mit HAUS SCHLESIEN als Lern- und Bildungsort für junge Polen, Deutsche und Tschechen bekannt. Das Haus vermittelt in Form von Tagungen, Ausstellungen und Vorträgen Wissen über die Region Schlesien und arbeitet regelmäßig mit Hochschulinstitutionen aus dem In- und Ausland zusammen. Dr. Christoph Studt vom Institut für Geschichtswissenschaft der Universität Bonn und Prof. Marek Hałub, Inhaber des Lehrstuhls für Kultur der deutschsprachigen Länder und Schlesiens am Institut für Germanistik in Breslau und Ideengeber der “Academia”, stellten Schlesien als Forschungs- und Lerngegenstand an ihren Institutionen vor. Dr. Studt, der sich selbst als „von Nirgendwo“ bezeichnete, skizzierte dabei, wie man vom erwähnten Nirgendwo über das Rheinland bis nach Schlesien kommt und schilderte Exkursionen seiner Studentengruppen, die er seit Jahren dorthin organisiert. Prof. Hałub stellte Schlesien als einen immanenten Teil der Forschung und Lehre am Lehrstuhl für Kultur der deutschsprachigen Länder und Schlesiens am Institut für Germanistik der Universität Wrocław vor. Die Schlesienforschung am Institut besitzt eine über 200 Jahre alte Tradition, hier waren Mitbegründer der schlesischen Kulturgeschichte wie Johann Gustav Gottlieb Büsching und Hoffmann von Fallersleben tätig, hier erlebt die Barockforschung ihren absoluten Höhepunkt. Diese Tradition wird am Lehrstuhl weitergeführt, von der Bedeutung des Kulturraums Schlesien für die heutige Germanistik in Breslau zeugen wissenschaftliche Tagungen, Seminare, Workshops und mehrere Publikationen, wie die von Prof. Marek Hałub und Prof. Anna Mańko Matysiak ins Leben gerufene wissenschaftliche Reihe „Śląska Republika Uczonych / Schlesische Gelehrtenrepublik / Slezská vědecká obec“, in der sich internationale Wissenschaftler mit mannigfaltigen Aspekten aus der schlesischen Kulturgeschichte auseinandersetzen.
Am Abend referierte der Direktor des Instituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Prof. Matthias Weber, über Geschichtsdebatten zwischen Polen und Deutschland seit 1989. Aufschlussreich thematisierte er u.a. Debatten um den umstrittenen Film „Unsere Mütter, unsere Väter“, das Zentrum gegen Vertreibungen und das Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität. Insbesondere für junge Multiplikatoren in den deutsch-polnischen Beziehungen war der Abendvortrag absolutes Pflichtprogramm. Dass der Vortrag Wirkung zeigte, bewies die anschließende, sehr rege Diskussion.
Am zweiten Tag stand der Höhepunkt der Woche an, eine Bildungsreise nach Brüssel. Nach rund dreistündiger Fahrt erreichte die Gruppe ihr erstes Ziel, das Europäische Parlament. Die Seminarteilnehmer bekamen die Chance, einen unmittelbaren Eindruck von den Arbeitsbereichen und der Funktionsweise des Europäischen Parlaments zu bekommen. Ein Gespräch mit Martin Kamp, Generalsekretär der EVP-Fraktion im Europaparlament und Sohn vertriebener Eltern aus Breslau und Karlsbad, fungierte als Einführung in die Materie. Es entwickelte sich eine spannende Fragerunde mit einem europäischen Politiker, der auch kritische Fragen souverän und selbstkritisch beantwortete. Die Studierenden zeigten Interesse an der Entwicklung der gegenwärtigen Tendenzen innerhalb der Europäischen Union, fragten nach der Zusammenarbeit zwischen den europafreundlichen und europaskeptischen Fraktionen im Parlament oder dem Sinn des umstrittenen doppelten Standorts des Parlaments in Brüssel und Straßburg, der im Kontext der EU-weit geführten Diskussion um den Klimawandel als überholt erscheint. Das danach folgende Gespräch mit dem Mitarbeiter des Europaabgeordneten Axel Voss erlaubte Einblicke in das Abgeordnetenleben und die damit einhergehenden Herausforderungen. Obwohl es an dem Tag leider keine Sitzung gab, durfte der Besuch des Plenarsaals natürlich nicht fehlen. Ein Highlight war der folgende Besuch des „Hauses der Europäischen Geschichte“, der den Studierenden die Möglichkeit einer Auseinandersetzung mit einer kontrovers beurteilten Ausstellung zur Geschichte Europas eröffnete. Die Geschichte eines Kontinents im Rahmen einer Ausstellung aufzuarbeiten ist eine große Herausforderung, die allgemein geäußerte Kritik an der Ausstellung wurde von vielen der Seminarteilnehmer geteilt. Die Freizeit in Brüssel nutzten die Teilnehmer, um den sehr sehenswerten Marktplatz mitsamt seinem riesigen Tannenbaum zu besichtigen, erst nach Mitternacht kam man wieder im HAUS SCHLESIEN an.
Der Vormittag des dritten Tages, der wie der Vortag unter dem Motto „Identitäten im Diskurs: Europa“ stand, begann mit einem Impulsvortrag vom Betreuer der Bonner Gruppe, Dr. Christoph Studt, einem ausgewiesenen Kenner der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Er verwies auf interessante Art auf die in den Planungen des Widerstandes verankerten Modelle für die Zukunft Europas und hob dabei den sog. “Kreisauer Kreis” um Helmut James von Moltke hervor, der mit Gleichgesinnten noch vor Kriegsende die Pläne einer Neuordnung Deutschlands und Europas nach dem Fall des “Dritten Reiches” schmiedete und dafür mit seinem Leben bezahlte.
Danach stellte der vielfach ausgezeichnete Breslauer Kardiochirurg Prof. Krzysztof Wronecki einen anderen Pionier seines Faches vor, den „großen Europäer in Breslau“ Jan Mikulicz Radecki (1850-1905) der in Wien, Krakau, Königsberg und der Hauptstadt Niederschlesiens wirkte und als einer der Begründer der modernen Chirurgie gilt. Mikulicz Radecki leistete Pionierarbeit auf vielen der heute eigenständigen Gebiete der Chirurgie und hat die Medizintechnik entscheidend bereichert – einige der heute allgemein bekannten Operationsinstrumente tragen seinen Namen. Es kann nicht bezweifelt werden, dass man sich in Breslau durch die Mikulicz Radecki-Straße gehend zukünftig stets an den Vortrag und deshalb gleich an beide Chirurgen erinnern wird.
Der Betreuer der Breslauer Gruppe und ausgewiesene Schlesienexperte Prof. Marek Hałub stellte in seinem Vortrag die identitätsstiftenden Erinnerungspotentiale Europas vor, u.a. am Beispiel des Hambacher Festes, einer demokratischen Kundgebung im Jahre 1832, an der auch polnische Bürger teilnahmen, die nach dem Novemberaufstand 1830 ihr Land verlassen mussten und im Zuge der allgemeinen „Polenbegeisterung“ als Vorkämpfer für die Freiheit in Europa galten. Prof. Hałub stellte darüber hinaus Schlesien als einen integralen europäischen Kulturraum vor, und zwar im Schnittfeld nicht nur von polnischer und deutscher, sondern auch von böhmischer, österreichischer und jüdischer Kultur.
Am Nachmittag folgte ein Besuch im “Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland” in Bonn. In der informativen Ausstellung wurden den Studierenden komplexe Zusammenhänge aus der Geschichte Deutschlands in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg anschaulich erklärt. In der Bundeszentrale für politische Bildung sammelten die Studierenden Materialien für ihre Bachelor- und Magisterarbeiten, in denen sie sich mit Themen aus der schlesischen Kulturgeschichte auseinandersetzen. Jeden Abend war die Bibliothek im HAUS SCHLESIEN prall gefüllt mit Nachwuchswissenschaftlern, denen der Mitarbeiter des Hauses Adam Wojtala bei Recherchen für ihre Arbeiten stets zur Seite stand.
Die nächsten zwei Tage standen unter dem Motto „Identitäten im Diskurs: Schlesien“. Zuerst standen Exkursionen nach Herne und Düsseldorf auf dem Programm. Besonders hervorzuheben ist der Besuch der “Martin-Opitz-Bibliothek” in Herne, einer Zentralbibliothek für die deutsche Kultur und Geschichte im östlichen Europa, die einen signifikanten Bestand mit thematischem Bezug zu Schlesien beherbergt. Die Bibliothek verfolgt die Aufgabe, Quellen zur Kultur und Geschichte Schlesiens zu sammeln, zu erschließen und zu vermitteln, organisiert Vorlesungen, Ausstellungen und Workshops. Der stellvertretende Direktor, Dr. Arkadiusz Danszczyk, führte die Seminarteilnehmer durch die Bibliothek und stellte ihre vielfältigen Projekte vor, die die “Martin-Opitz-Bibliothek” in Kooperation mit internationalen Hochschuleinrichtungen und Institutionen durchführt. Unter den Nachlässen hob er die Bedeutung des Teilnachlasses der Briefe an Max Herrmann-Neiße hervor, der mit vielen hervorragenden Literaten und Publizisten seiner Zeit, wie Thomas Mann und Hermann Hesse, im brieflichen Kontakt stand. Die Studierenden bekamen nicht nur Einblicke in die Funktionsweise einer Spezialbibliothek, beeindruckend war die Präsentation von besonderen, einzigartigen und wertvollen Exemplaren aus den reichen Bibliotheksbeständen. Anschließend stattete man dem “Gerhart-Hauptmann-Haus” in Düsseldorf einen Besuch ab. Die Stiftung, im Sinne eines kulturellen Brückenbaus nach dem schlesischen Literaturnobelpreisträger benannt, setzt sich im Zuge der Osterweiterung der EU die Aufgabe der Bewahrung und Pflege des gemeinsamen historischen und kulturellen Erbes. Die Funktionsweise und den Ursprung der Institution bekamen die Seminarteilnehmer von Prof. Winfrid Halder anschaulich erklärt. Danach gab es genügend Zeit, um bei winterlichen Temperaturen den Rhein entlang zu spazieren.
Am Vormittag des nächsten Tages standen Impulsvorträge und Gespräche mit der Stadt Breslau im Mittelpunkt an. Die Hauptstadt Niederschlesiens stellt in der germanistischen Forschung und Lehre am Institut für Germanistik der Universität Wrocław einen wichtigen Schwerpunkt dar. Dr. Mariusz Dzieweczyński, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kultur der deutschsprachigen Länder und Schlesiens, der am Institut seit Jahren Seminare unter dem Motto „Breslau als europäisches Kulturphänomen“ leitet, zeichnete in Wort und Bild das Programm der Kulturhauptstadt Europas 2016 vor dem Hintergrund der Stadtgeschichte nach. Die Plattform, die der Titel “Kulturhauptstadt Europas” Breslau bot, hat man gekonnt für die Zurschaustellung der Umbrüche aus dem großen Fundus an geschichtlichen Narrativen genutzt. Auf dem Weg, ein europäischer Erinnerungsort zu werden, legte die Stadt Breslau seiner Meinung nach 2016 einen wichtigen Zwischenstopp ein.
Danach stellte die Breslauer Radiojournalistin und Schriftstellerin Joanna Mielewczyk ihr erfolgreiches Projekt “Kamienice/Breslauer Häuser” vor, Erzählungen von Breslauer Vor- und Nachkriegsbewohnern. Das Herzstück der Präsentation bildete dabei ein Interview mit einem der Protagonisten ihrer Bücher, Hubert Wolff, der 1931 im St. Josef-Krankenhaus auf der Dom-Insel in Breslau zur Welt gekommen war und Jahrzehnte später in Köln ein Breslau-Museum gründete.
Am Nachmittag folgte ein Meeting mit Hans-Jörg Neumann, dem Generalkonsul der Bundesrepublik Deutschland in Breslau. Gleich am Anfang kündigte er an, auf ein langes Gespräch vorbereitet zu sein, in dessen Verlauf die Studierenden Antworten auf brennende Fragen bekamen. Es entwickelte sich ein spannender und interessanter Austausch der eine große Themenspannweite abdeckte und zu einem der Höhepunkte der Woche avancierte. Der Generalkonsul konnte aus dem reichen Erfahrungsfundus seiner Diplomatenkarriere schöpfen, thematisierte neben schwierigen Verhandlungen und internationalem Krisenmanagement auch Felder wie Praktika im Konsulat, an denen junge Menschen großes Interesse zeigten.
Die Studienwoche wurde von einer öffentlichen Autorenlesung abgerundet. Eingeladen war der in Oppeln geborene, nach Bamberg ausgewanderte Autor Matthias Nawrat, der Passagen aus seinem Buch „Die vielen Tode unseres Opas Jurek“ vorlas, einer Art Schelmenroman, der die Familiengeschichte Nawrats vor dem Hintergrund der Geschichte Polens und Europas im 20. Jahrhundert erzählt. Kostproben von Nawrats spitzer Feder, sein Sinn für Humor und der gelungene Balanceakt zwischen Tragik und Komik ließen die Lesung zu einer interessanten und kurzweiligen Angelegenheit werden. In der folgenden, langen Fragerunde erfuhren die Gäste und die Studierenden, wie stark der Einfluss persönlicher Erfahrungen des Autors auf den Stoff war und wieviel echter Opa Jurek im „Opa Jurek“ steckt. Eine intensive Diskussion entwickelte sich rund um die von der Leserschaft kritisch beäugten Schilderungen des Protagonisten Opa Jurek aus dem KZ Auschwitz. Nicht nur aus philologischer Perspektive waren Fragen nach den Interferenzen zwischen der polnischen und der deutschen Sprache spannend – hätte Nawrat das Buch eigentlich auch auf Polnisch schreiben können? Die Gäste bekamen auch Einblicke in die Arbeitsweise eines erfolgreichen Romanautors. Lust auf die Lesung machte schon Tage vorher Dr. Christoph Studt, der Interessierten leidenschaftlich seine Lieblingspassagen aus dem Buch skizzierte. Als Matthias Nawrat während der Lesung nach einer bestimmten Stelle in seinem Buch gefragt kurz überlegen musste, welche Seite er nun aufschlagen solle, stand Dr. Studt auf und rief „Seite 102!“, womit er für eine Auflockerung der nachdenklich stimmenden Atmosphäre sorgte. Auch nach der Lesung gab es genügend Zeit, weitere Themenfelder in persönlichen Gesprächen aufzuschlagen.
Wie alle Themen der Woche hat dieser Abschlussabend wohl jedem Teilnehmer Antworten gegeben auf die heute immer wieder gestellte Identitätsfrage „Wer bin ich?“ und weckte fundierte Empathie für die Perspektive des Anderen im Rahmen eines europäisch ausgerichteten Verständnisses. Den Organisatoren der “Academia Silesia” gelang es im Rahmen der Studienwoche die mental maps der Studierenden über die jeweils nationale Perspektive der schlesischen Kulturgeschichte hinaus für ein vielgestaltiges, multiperspektivisches Bild Schlesiens und seines europäischen, plurikulturellen Erbes zu öffnen. Neben den Höhepunkten Brüssel, Herne und Düsseldorf waren Vorträge von ausgewiesenen Schlesienkennern und Gespräche mit namhaften Gästen weitere Eckpfeiler des sehr abwechslungsreichen Programms. Hervorzuheben ist die rege Teilnahme der Studierenden an allen Programmpunkten und den zahlreichen Diskussionen, sowie der ständige Erfahrungsaustausch in multinationalen Gruppen. Die “Academia” erreichte somit ihr zweites Ziel – junge Europäer aus Polen und Deutschland einander näher bringen. Eine Fortsetzung der Initiative wäre sehr wünschenswert!
Zum Abschluss sei eine der Teilnehmerinnen zitiert: „Die “Academia Silesia” war aus meiner Sicht ein sehr erfolgreiches Projekt mit einem sehr abwechslungsreichen und interessanten Programm, besonders hervorzuheben der Besuch in Brüssel und in der Martin-Opitz-Bibliothek in Herne, sowie die Freizeit in Brüssel, Bonn und Düsseldorf, die uns als polnisch-deutsche und deutsch-polnische Gruppe einander noch enger zusammengebracht hat. Hoffentlich bleibt der ein oder andere hergestellte Kontakt untereinander bestehen. Es wäre doch schön, wenn man in zehn Jahren auf die Frage, wo man sich kennengelernt habe, sagen könnte, man habe sich im HAUS SCHLESIEN bei der “Academia Silesia” erstmals getroffen.
Mariusz Dzieweczyński