Als der kaum 17-jährige Gunther Helbing am 1. April 1939 seine Landwirtschaftslehre auf dem Gut Mittel-Lobendau im Kreis Goldberg begann, geschah dies vermutlich mit der Absicht, eines Tages das Anwesen der Eltern in Gumpertsdorf (Comprachtschütz) im Kreis Oppeln zu übernehmen. In sein akribisch geführtes Merkbuch des Landwirtschafts-Lehrlings hatte er neben die genaue Beschreibung des Betriebes auch eine Zeichnung des Anwesens gesetzt. Aus seinen Aufzeichnungen über das 325 ha große Gut wird deutlich, dass zu dessen Bewirtschaftung viele Arbeitskräfte notwendig waren. Doch diese fehlten bald nach Beginn des Zweiten Weltkrieges, da viele Arbeiter aus der Landwirtschaft ab- und zur Wehrmacht eingezogen wurden. Ihre Aufgaben übernahmen Frauen und immer häufiger auch sog. Fremdarbeiter. Neben polnischen und französischen Kriegsgefangenen waren unter ihnen viele belgische Soldaten, die nach der Kapitulation im Mai 1940 alle in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten waren. Auch in Mittel-Lobendau wurden belgische Zwangsarbeiter eingesetzt.
In der Landwirtschaft tätige Kriegsgefangene waren zumeist auf den Höfen untergebracht und wurden dort verpflegt. Doch gab es klare Vorschriften, was den Umgang mit ihnen betraf. So mussten sie in vom Wohnbereich getrennten Unterkünften leben, durften nicht am gleichen Tisch sitzen und über die Arbeit hinausgehender Kontakt mit ihnen war strikt verboten.
Gunther Helbing und der aus dem wallonischen Bertrix stammenden Julien Schyns setzten sich über dieses Verbot jedoch hinweg. Da den Kriegsgefangenen strenge Auflagen in Bezug auf die Korrespondenz mit ihren Familien gemacht wurden – sie durften nur zwei Briefe und zwei Karten im Monat schreiben und empfangen, die zudem kontrolliert wurden – trat Gunther Helbing mit der Familie von Julien in Briefkontakt. Unter dem Vorwand, landwirtschaftliche Fachliteratur aus Belgien zu benötigen, schrieb er die Familien an. In diesen Briefen, die sich vordergründig mit dem Bücherversand befassten, berichteten beide Seiten jeweils von dem Geschehen daheim. So bekam die Familie zusätzliche und unzensierte Informationen über ihren Sohn und dieser wusste, was zu Hause passierte.
Gunther Helbing musste seine Lehre zwei Monate vor dem regulären Abshluss beenden, da er bereits am 1. Februar 1941 zur Wehrmacht eingezogen wurde. Er geriet 1944 in Rumänien in russische Kriegsgefangenschaft, aus der er erst nach fünf Jahren entlassen wurde.
Den Briefen, die von der Familie Schyns 1940 nach Mittel-Lobendau geschrieben wurden, liegt auch ein in französischer Sprache verfasster Brief aus dem Jahr 1954 bei. Julien Schyns gratuliert darin seinem Freund Gunther Helbing zu dessen Verlobung. Trotz aller Verbote und Schicksalsschläge war zwischen den beiden jungen Männern seinerzeit in Schlesien eine Freundschaft entstanden, die Krieg und Gefangenschaft überdauert hat.