Er war der ganze Stolz seiner Besitzerin: ein kleiner brauner Koffer aus Hartpappe, mit Ledergriff und mit Leder verstärkten Ecken, innen mit kariertem Papier ausgekleidet. Neben dem Griff verrät das kleine Etikett „Melzig / Liegnitz“ seine Herkunft. Die 1876 gegründete Fabrik produzierte Taschen, Koffer und Lederwaren. Zu Beginn der 1930er Jahre erworben, hat der Koffer Hildegard Ringelhann über viele Jahrzehnte durch alle Höhen und Tiefen ihres Lebens begleitet.
Zunächst leistete der Koffer bei diversen Reisen von Steinau a. d. Oder zu den fernab der Heimat lebenden Kindern und deren Familien gute Dienste. Stets beinhaltete der Koffer bei solchen Reisen neben der für den Aufenthalt nötigen Wäsche zahlreiche Leckereien von daheim, darunter der gute Mohnkuchen oder die Wellwurst – auch während der ersten Kriegsjahre.
Als die Rote Armee Ende 1944 an der Weichsel stand, drohte erstmals ein Übergreifen der Kampfhandlungen auf reichsdeutsches Gebiet. Damit rückte die Front immer näher an das bislang von Kampfhandlungen verschont gebliebene Schlesien heran. Auch in Steinau wurde kurz vor Weihnachten ein geheimer Räumungsplan erarbeitet, der aber nur von einer vorübergehenden Evakuierung von einer höchstens zwei Wochen ausging. Auf dieser Fehleinschätzung basierend, sprach man Empfehlungen aus, nur das Nötigste einzupacken, da man bald zurückkehre. Für den Notfall hatte Frau Ringelhann bereits alle wichtigen Dinge in ihren Koffer gepackt – Ausweise, Sparbücher, Schmuck und Familiendokumente – und nebst einem Wäschesack für den Fall eines Luftangriffs im Luftschutzkeller deponiert.
Als die Rote Armee im Januar 1945 aus dem Weichselbogen heraus einen Großangriff startete und binnen zwei Wochen bis zur Oder vorrückte, wurde die Bevölkerung aus den niederschlesischen Kreisen in aller Eile evakuiert. Für die Orte rechts der Oder, die dem Vorstoß des Feindes ungeschützt ausgesetzt waren, erging der Räumungsbefehl am 19. und 20. Januar. Auch bei Frau Ringelhann klopfte es am Abend des 19. Januars an die Tür. Eine Nachbarin forderte sie auf, sich ihnen anzuschließen. Zeit blieb kaum und so griff sie sich ihr Köfferchen und den Wäschesack und bestieg den vor dem Haus wartenden Wagen. Dass es ein Abschied für immer sein würde, wusste sie damals noch nicht.
Zunächst ging es Richtung Lüben, dort lebte Verwandtschaft. Doch auch hier herrschte Aufbruchstimmung. Nach einigen Tagen erreichte der Treck schließlich Bunzlau, von wo aus es mit einem Güterzug weiterging. Als es unterwegs Fliegeralarm gab, sprang auch Frau Ringelhann aus dem Zug. Dabei fiel sie so unglücklich, dass das Kofferschloss sich öffnete, der Koffer aufsprang und sich sein Inhalt auf das Gleisbett ergoss. Zeit zum Aufsammeln der Habseligkeiten hatte sie nicht und so blieb ihr am Ende nur der leere Koffer – alle Papiere waren verloren.
Eine zweite Heimat fand Frau Ringelhann schließlich in Niedersachsen, der Koffer begleitete sie auch hierhin.