Das neue Rathaus in Liegnitz – ein markantes Gebäude, eines das zu Recht in den Reiseführern Erwähnung findet und Teil jeder Stadtführung ist. Als das alte Rathaus auf dem Ring für die zum Ende des 19.Jahrhunderts stark wachsende Stadt zu klein geworden war, entstand zwischen 1902 und 1906 an der Ostseite des Friedrichsplatzes (heute pl. Słowiański) ein neues Amtsgebäude nach einem Entwurf des Architekten Paul Öhlmann. Dass man Souvenirs anfertigte mit einer Abbildung der im Stil der Neorenaissance gehaltenen Stadtverwaltung, ist leicht nachvollziehbar – etwas ungewöhnlich erscheint jedoch die Form des Andenkens: das längliche, grüne Gefäß aus Porzellan, oben mit einer Öffnung versehen, hat die Form einer Gurke. Der genaue Verwendungszweck hierfür ist zwar nicht überliefert, seine Gurkenform aber leicht zu erklären.
Die niederschlesische Stadt Liegnitz wurde von vielen nämlich weniger wegen ihrer architektonischen Pracht als wegen ihrer Gurken geschätzt. Die fruchtbaren Schwarzerdeböden an Katzbach und Schwarzwasser und die günstigen klimatischen Bedingungen ermöglichten rund um Liegnitz einen äußerst einträglichen Gurkenanbau, was weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt war. Neben den Gurken gediehen hier auch weitere Gemüsesorten wie Möhren, Zwiebeln, Spinat und vor allem verschiedene Kraut- und Kohlsorten. Das frische Gemüse wurde bis Königsberg, Oberschlesien, Berlin, Sachsen und sogar nach München geliefert. Doch die Ernteerträge der „Liegnitzer Goldfelder“, wie sie im Volksmund genannt wurden, übertrafen bei weitem die Mengen, die sich auf diese Weise verkaufen ließen, und so mussten Lösungen gefunden werden, das Gemüse transportfähiger und haltbarer zu machen.
Seit Ende des 19. Jahrhunderts entstanden deshalb in Liegnitz immer mehr Konservenfabriken, Gurkeneinlegereien und Kohlfabriken. Neben den typischen, in Fässern eingelegten sauren Gurken wurde vor allem Sauerkraut hergestellt. Für das Einlegen der Gurken und des Sauerkrautes sowie die Konservierung der anderen Gemüsesorten benötigte man jedoch nicht nur rohes Gemüse, sondern auch verschiedene Gewürzkräuter wie Kümmel, Majoran oder Estragon. Die große Nachfrage durch die Fabriken führte bald dazu, dass die Kräuter nicht mehr in Gärtnereien, sondern ebenfalls in großen Mengen in den sogenannten Kräutereien gezogen wurden.
Der Gemüseanbau sowie die Konservenindustrie haben einen wesentlichen Beitrag zum wirtschaftlichen Aufschwung der Stadt Liegnitz beigetragen. Zu der positiven Entwicklung dieses Wirtschaftszweiges haben neben dem Ausbau des Eisenbahnnetzes, das erst den Transport der Produkte in alle Teile des Reiches ermöglichte, auch die Gründung einer „Höheren Landwirtschaftsschule“ im Jahr 1873 sowie der einer „Landwirtschaftlichen Gemüsebauschule“ beigetragen.
Von allen Gemüsesorten, die rund um Liegnitz angebaut und verarbeitet wurden, war die Gurke jedoch die populärste. Als Produkt war die Liegnitzer Gurke weithin bekannt und so identifizierten sich auch die Liegnitzer selbst auf humorvolle Weise mit dieser Gemüsesorte.