Mehr als 75 Jahre hatte dieses Stadtpanorama von Jauer einen Ehrenplatz bei seiner Besitzerin – weniger wegen seines materiellen als wegen seines ideellen Wertes. Der Kupferstich des Künstlers Rudolf Hacke (1881 – 1952) erzählt nämlich ein Stück Familiengeschichte.
Einen ersten Abzug der Panoramaansicht „Jauer am Katzbachgebirge“ hatte Heinrich, der Onkel der letzten Besitzerin, 1944 in Koblenz erworben. Der aus Köln stammende Geologe war im Zweiten Weltkrieg als Soldat an der Ostfront verwundet worden und daraufhin ins Lazarett nach Koblenz gekommen. Nach seiner Genesung besuchte er in der Stadt eine Ausstellung, die Werke ostdeutscher Künstler zeigte: Dort entdeckte er den Kupferstich, der einen Blick aus südwestlicher Richtung auf die Stadt Jauer gewährt. Links im Bild ist die Friedenskirche und der Turm der katholischen Stadtpfarrkirche St. Martin zu sehen, mittig überragt der Rathausturm die Dächer und rechts ist das Franziskanerkloster zu erkennen, das heute das Regionalmuseum beherbergt. Gezeichnet und gestochen wurde die Druckgraphik 1943 von dem aus Berlin stammenden Künstler Rudolf Hacke, der nach dem Abschluss seiner Schulausbildung zunächst an der Kunstakademie in Berlin und später in Dresden studiert hatte und sich zu Beginn der 1920er Jahre mit seiner Frau in Schlesien niederließ, wo er fernab von der Kunstszene der Hauptstadt lebte und arbeitete. In dieser Phase entstande eine Reihe von Kupferstichen mit schlesischen Städteansichten.
Die Druckgraphik von Jauer erregte die Aufmerksamkeit des jungen Soldaten in Koblenz vor allem deshalb, da er kurz zuvor von seiner Mutter die freudige Nachricht von der Geburt seiner Nichte Gisela erhalten hatte. Diese war jedoch nicht, wie es die Herkunft der Familie nahegelegt hätte, in Köln sondern im niederschlesischen Jauer geboren worden. Denn während die Bewohner der Großstädte an Rhein und Ruhr seit 1942 unter den anhaltenden Luftangriffen der westlichen Alliierten litten, war Schlesien bis Ende 1944 von den Kriegshandlungen weitgehend verschont geblieben. Aus diesem Grund wurden viele Kinder und kinderreiche Familien aus Westdeutschland in die ländlichen Regionen Schlesiens geschickt. Auch Giselas Mutter Käthe wurde 1944 nach Würgsdorf im Kreis Jauer evakuiert und brachte dort ihre Tochter zur Welt.
Was passte also besser als Geschenk zur Geburt, als die in Koblenz entdeckte und erworbene Panoramaansicht. Bis zur Übergabe sollte eine Freundin von Heinrich den Kupferstich aufbewahren. Sie wurde jedoch ausgebombt und mit ihrem ganzen Hab und Gut ging auch die Stadtansicht verloren. Als Heinrich seine Schwester und die kleine Nichte im Januar 1945 endlich in Würgsdorf besuchen konnte, berichtete er von der verlorenen Graphik. Da sich herausstellte, dass der Künstler im nahegelegenen Seitendorf lebte, übergab Heinrich seiner Schwester 100 Mark, mit der Bitte beim Künstler persönlich einen neuen Abzug für die Nichte zu erwerben.
Diesen zweiten Abzug nahm die junge Mutter, als sie schließlich aus Schlesien fliehen musste, mit nach Köln, und bewahrte damit für die Tochter nicht nur die Erinnerung an ihre Geburtsstadt sondern auch das Andenken an den Onkel.